Die Glocke von 1498 zu Meiningsen und ihr Meister Hermann Vogel [1]

In den Jahren um und nach 1500 lebte in Soest ein bedeutender Glockengießer. Er hieß Hermann Vogel. Der Meister hat im Raume Westfalen eine Anzahl Glocken hinterlassen, von denen einige durch ihre gute Qualität auffallen.

Nachdem bis auf eine alle erhaltenen Glocken dieses Gießers untersucht werden konnten, lassen sich nun recht interessante Zusammenhänge mit anderen Gießern und ihren Werken aufzeigen. So sind heute zwar biographische Einzelheiten über Hermann Vogel noch unbekannt; ziemlich sicher sind wir aber nun über die Stellung des Meisters in der Glockengießerei seiner Zeit orientiert; wir kennen seine künstlerische Herkunft und haben wichtige Einblicke in die musikalischen Verhältnisse seiner Glocken gewonnen. Der vorliegende Beitrag kann bei weitem nicht das erhaltene Werk Hermann Vogels in allen Einzelheiten besprechen; hier sollen lediglich die wichtigsten Zusammenhänge mit seinen Zeitgenossen und insbesondere seine Stellung zur niederländischen Schule des Gherhardus de Wou erläutert werden .

Die Glocke zu Meiningsen ist eines der schönsten Stücke des Meisters. Sie wurde 1498 gegossen und wiegt etwa 550 kg bei einem Durchmesser von 0,995 m. Die Tonlage liegt bei f. Beim Vergleich dieser Daten fällt die ungewöhnlich leichte Konstruktion der Rippe auf. Die Nachhallzeit beträgt 45 sek, ein für Glocken dieser Zeit ordentliches Maß. Von beachtlichem Aufbau ist die Klangstruktur, die uns - mit nur geringen Differenzen - das Bild einer reinen Oktavglocke präsentiert. Nach einer Messung (a1 = 440 Hz) sieht sie folgendermaßen aus: Tonlage (Schlagton) f 1 + ca. 3/16 Halbton; Unterton f0 ± 0; Prime f 1 + ca. 4/16 Halbton; Terz as1 ± 0; Quinte c2 - ca. 3/16 Halbton; Oberoktave f2 (etwas tiefer).

Der Meister hat die Glocke in sauberstem Guß ohne jeglichen Fehler hergestellt und dabei eine sparsame, aber sehr wirkungsvolle Dekorierung verwendet: Unter der Haube verläuft ein Ornamentband mit reicher Gliederung. Eine Inschrift in gotischen Minuskeln wird beiderseits von zwei Linien (je eine dünne und eine dicke) eingefaßt. Darüber und darunter ist je ein Bogenfries angebracht. Die Bögen zeigen eingefügte Dreipässe und stilisierte Blüten an den Enden. Jeder Fries wird von einer Perlschnur mit zwei weiteren Linien begleitet. Zur optisch günstigen Aufteilung des Glockenkörpers hat der Gießer über dem Schlagring fünf, am unteren Rand drei und auf der Haube vier Linien angebracht. Die schmucklose Krone besteht aus sechs Henkeln quadratischen Querschnitts, die um eine Mittelöse gruppiert sind. In der Inschrift, bei der die schöne Gestaltung der Buchstaben auffällt, ist jeweils der Buchstabe "g" seitenverkehrt auf den Kopf gestellt. Zur Worttrennung dienen kleine Rosetten, hier durch Punkte markiert, sowie ein Münzabdruck. (Münzabdruck) ihesus . maria . johannes . sanctus . matius . (= Matthias?) m . cccc . cxviii . dar . bi . got . herman . vogel mi .

Für die westfälische Glockengießerei war mit dem Tode des großen Meisters Johannes von Dortmund ein Höhepunkt der spätgotischen Zeit zu Ende gegangen. Doch nur wenige Jahre später begann mit der Tätigkeit des niederländischen Meisters Gherhardus de Wou, des münsterischen Gießers Wolter Westerhues und des Soesters Hermann Vogel ein letzter Höhepunkt, der die Epoche mittelalterlichen Glockengusses in unserem Lande beendet. Dieser Höhepunkt ist in verschiedener Hinsicht zu kennzeichnen:

Einmal haben die genannten Meister (außer H. Vogel selbst) mehr Glocken geschaffen als die meisten ihrer Vorgänger und Nachfolger. Zum anderen beobachten wir eine hohe künstlerische Qualität der Glocken. Vor allem aber ist die z. T. hervorragende Klangqualität vieler ihrer Glocken hervorzuheben. G. de Wou wie auch Hermann Vogel und Wolter Westerhues haben durchweg Glocken des Oktavtyps gegossen, der das Klangideal mittelalterlicher Glockengießerei darstellt und auch in Westfalen schon im 13. Jh. in ausgezeichneten Exemplaren vertreten ist.

Unter den drei genannten Gießern ist Gherhardus de Wou aus Kampen die hervorragende Gestalt. Hier kann nur angedeutet werden, daß er zu den größten Glockengießern aller Zeiten gehört; viele seiner Stücke werden auch durch die besten modernen Glocken nicht übertroffen . Die künstlerische Gestaltung seiner Glocken ist kennzeichnend für die Zeit um 1500 und von großer Schönheit. Daß ein solcher Meister ein weitreichendes Arbeitsgebiet hatte, ist ebenso verständlich wie die große Zahl seiner Schüler und Nachfolger. Besteht zwischen Glockengießern ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, übernimmt einer die Werkstatt des anderen, oder arbeiten sie auf eine noch andere Weise zusammen, so läßt sich das heute meist ohne Schwierigkeit feststellen, auch wenn die Glockensignaturen keine Rückschlüsse erlauben. Dann beobachtet man nämlich nicht nur eine weitgehende Übernahme von Buchstaben, Ornamenten, figürlichen Darstellungen, u.a. sondern auch eine enge Anlehnung an die Glockenrippe des (Lehr-) Meisters. Die Form der Rippe (und damit die Klangstruktur) sowie ihre Dimensionierung stimmen bei den Glocken der jeweiligen Meister überein.

Hermann Vogel weist sich durch seine Glocken mit großer Wahrscheinlichkeit als Nachfolger - vielleicht sogar als zeitweiliger Mitarbeiter - des Gherhardus de Wou aus. Die Tätigkeit Meister Gherhards in Westfalen währte mit mehreren Unterbrechungen von 1485 (4 Domglocken zu Osnabrück) bis zum Jahre 1500 (Geläute von Recklinghausen). Hermann Vogels früheste Glocken stammen von 1492, seine letzte von 1519. Daraus geht hervor, daß die westfälische Ära des großen Niederländers und die des Soesters zeitlich fast aufeinander folgen mit nur geringer Überschneidung. Die Annahme liegt nahe, daß Hermann Vogel zunächst Schüler Meister Gherhards war und erst nach einiger Zeit mit eigenen Arbeiten erscheint. Noch wahrscheinlicher ist ein solches Lehrer-Schüler-Verhältnis übrigens für Wolter Westerhues, dessen Anlehnung an sein Vorbild (G. de Wou) noch stärker ist .

Betrachten wir die Zusammenhänge von Vogels Glocken mit denen Gherhards de Wou genauer , so ist zu bemerken, daß der Zierfries der Meiningser Glocke bei allen drei genannten Meistern der hauptsächlich verwendete ist. Wir finden ihn sowohl an Meister Gherhards Glocken von St. Michaelis zu Lüneburg (1492), an seinen vier c1- und es1-Glocken zu Recklinghausen und Münster (diese Beispiele für viele andere), als auch an den meisten Glocken des Wolter Westerhues, sei es die Marienglocke zu Bönen (Krs. Unna) oder die große Salvatorglocke zu Billerbeck (Krs. Coesfeld). Schließlich hat Hermann Vogel selbst diesen Fries öfter als alle anderen gebraucht. Auf andere Weise, nämlich mit einem sehr schönen Astwerkfries, geschmückt ist Vogels Glocke zu Bad Sassendorf. Dieser Fries erscheint nicht nur auf der großen Glocke des G. de Wou an St. Nicolai zu Lüneburg (1491), sondern ebenfalls an W. Westerhues' Marienglocke von St. Ludgeri zu Münster (1507). Ein anderer Fries der Sassendorfer Glocke findet sich wieder auf der genannten Lüneburger Glocke des G. de Wou sowie auf Vogels Glocke zu Harsewinkel. Ähnliche Gemeinsamkeiten lassen sich auch bezüglich der Buchstabenformen, der Worttrennungszeichen und anderer Gestaltungsmerkmale aufzeigen.

Für die Geschichte des Soester Glockengusses ist es interessant, daß bei der Untersuchung von Vogels Glocke in Werl eine kleine Glocke von 1480 gefunden wurde, die mit "Johann de Sosato" signiert ist und bisher ganz unbekannt war. Der Meister ist durch diese Datierung als bisher frühester Glockengießer dieser Stadt bekannt geworden. Er hat die kleine Glocke mit einem Relief geschmückt, das Hermann Vogel 15 Jahre später beim Guß seiner Werler Marienglocke wieder verwendet hat. Es ist nicht ausgeschlossen, daß H. Vogel als Soester Gießer die Werkstatt des Johann de Sosato übernommen hat. Eigenartigerweise sind aber weitere Gemeinsamkeiten beider Gießer nicht festzustellen, wie auch über J. de Sosato noch keinerlei Rückschlüsse möglich sind.

Von H. Vogel sind in Westfalen acht Glocken erhalten; dazu konnten vier weitere ermittelt werden, die nicht mehr vorhanden sind. Die beiden ältesten Glocken des Meisters wurden 1492 gegossen und hängen in Holzhausen (b. Minden) und in Weslarn (Kr. Soest). Die beiden größten hängen in Werl (1495; Ton d1; 1,325 m Durchmesser) und in Harsewinkel (Kr. Warendorf; von 1511; Ton d1; 1,3 m Durchm.). Der Meister hat einige seiner Glocken mit Reliefs geschmückt, und zwar 1495 in Werl eine Muttergottes, 1513 in Recklinghausen-Suderwich eine Muttergottes und eine andere Heilige und 1517 in Bad Sassendorf eine Muttergottes und einen Heiligen. Die Figuren sind 14 bis 16,5 cm hoch. Bis auf die prächtigen Sassendorfer Figuren sind sie durchschnittliche Werke des Zeitstiles. Allem Anschein nach gehen sie nicht auf G. de Wou zurück, sondern auf die Zusammenarbeit mit anderen Gießern, die in drei Fällen durch Glockensignaturen bewiesen ist .

Die musikalischen Verhältnisse sind der wichtigste Teilbereich der Glockenforschung. Meister Hermann Vogel hat in der Regel die gleichen Klangstrukturen gegossen wie sein Vorbild G. de Wou, eine gute Oktavrippe, bei der Prime und Quinte jedoch meist etwas vertieft sind. Reine Oktavglocken, auch bei Gherhardus de Wou eine Seltenheit, gelangen dem Meister nur zweimal in Recklinghausen-Suderwich und in Meiningsen. Die gemessenen Differenzen von Prime und Quinte schwanken von einigen Halbtonsechzehnteln bis zu einem Halbton. Meist beeinflussen sie die Klangqualität nicht zum Negativen hin. Die vertiefte Prime gibt dem Klang eine sehr weiche Färbung (z. B. bei der Werler Glocke). Ist die Prime allerdings um einen Halbton vertieft, so ergibt sie bei geringer Schlagtonintensität besonders beim Abklingen einen eigenartigen Durterzeffekt mit der Terz, die andererseits, zum Schlagton gemessen, als Mollterz erklingt. Ein typisches Beispiel dafür ist die Werler Glocke mit dem Schlagton ~d1, der Prime ~des1 und der Terz ~f 1 .

Bezüglich der Klangstruktur fällt allein die Sassendorfer Glocke aus dem Rahmen: Die Prime ist hier um einen Ganzton vertieft und die Terz - was sehr selten vorkommt - in den Sekundbereich herabgedrückt. Die meisten Glocken Hermann Vogels haben eine etwas verhaltene, oft sehr weiche, aber im ganzen zufriedenstellende Tongebung. Der Schlagtoneffekt kommt durchweg gut zur Geltung. Nachhallmessungen brachten meist ordentliche Resultate. Die Klangintensität als materialbedingter Faktor ist bei vielen Glocken geringer als üblich. H. Vogels Glocken verlangen daher sehr sorgfältig dimensionierte Klöppel, da schon eine wenig über das mögliche Maß herausgehende Anschlagstärke verhängnisvoll sein kann .

Vergleichen wir bei den drei Meistern die technischen und musikalischen Daten, so stellen wir fest, daß die Gießer für Glocken derselben Tonlage in der Regel gleich schwere Rippen gebrauchten - ein weiterer Beweis für ihre enge Zusammenarbeit. Dabei fällt die oft sehr leichte Konstruktion der Rippen auf. Bei Gherhard de Wou kommen derartige leichtrippige Glocken noch seltener vor, bei Wolter Westerhues und Hermann Vogel hingegen sind sie häufiger. Ein typisches Beispiel ist die Meiningser Glocke mit ihrer ganz ungewöhnlich leichten Konstruktion.

Zusammenfassend dürfen wir feststellen, daß keine Glocke von Hermann Vogel als ausgesprochener Fehlguß anzusprechen ist, wenn man einmal von dem völlig mißratenen Zierband der Harsewinkeler Glocke absieht. Insgesamt kann man die Glocken zu Recklinghausen-Suderwich und zu Meiningsen wegen ihrer guten Klangstrukturen und die Glocke zu Werl wegen ihrer schönen Tongebung als die besten Stücke des Meisters bezeichnen; dagegen ragt die Sassendorfer Glocke wegen ihrer vorzüglichen Reliefs aus dem Gesamtwerk des Meisters heraus. Bei aller Würdigung seines Schaffens bleibt festzuhalten: Hermann Vogel war für Westfalen um 1500 ein bedeutender Meister; er steht aber deutlich hinter der Leistung seines großen Vorbildes Gherhard de Wou zurück und wird auch von seinem Zeitgenossen Wolter Westerhues übertroffen.

Die erhaltenen Glocken Hermann Vogels:

1492 Holzhausen (b. Minden) 1,03m Dm (noch nicht untersucht)
1492 Weslarn (Krs. Soest) 0,87m Dm ca. 400 kg Ton a1
1495 Werl,Propsteikirche 1,325m Dm ca. 1500 kg Ton d1
1498 Meiningsen (Krs. Soest) 0,995m Dm ca. 550kg Ton f 1
1511 Harsewinkel (Krs. Warendorf) 1,3m Dm ca. 1450 kg Ton d1
1513 Recklinghausen-Suderwich, St. Johannes 0,92m Dm ca. 500 kg Ton a1
1517 Bad Sassendorf (Krs. Soest) 0,89m Dm ca. 450kg Ton a1-ca. 10/1
1519 Hamm-Berge 1,085m Dm ca. 800kg Ton e1- f 1

Nicht mehr erhalten sind folgende Glocken:

1501 Obermarsberg (Krs. Brilon), zusammen mit Joh. Herteles; 1646 zerbrochen.
1503 Benninghausen (Krs. Lippstadt), 1748 umgegossen.
1503 Welver (Krs. Soest), 0,54m Dm; Verbleib unbekannt.
1512 Eickel (b. Gelsenkirchen); Verbleib unbekannt.

Quelle

  1. Claus Peter: Die Glocke von 1498 zu Meiningsen und ihr Meister Hermann Vogel. Erschienen in: Soester Zeitschrift, Heft 83. Siehe Literaturverzeichnis.