Meine Eltern zogen 1932 - ich war damals vier Jahre alt - von einem Pachthof bei Dortmund auf den elterlichen Hof in Meiningsen. Von den ersten Lebensjahren habe ich nur dunkle Erinnerungen, dafür sind mir viele schöne Erlebnisse auf dem Hof in Meiningsen im Gedächtnis geblieben.
Wir lebten viel einfacher, bescheidener, im Vergleich zu heute und waren doch zufrieden! Spielzeug gab es in geringen Mengen; ich besaß einen Roller, dessen kleine Holzräder mit Eisenringen beschlagen waren. Meine Mutter sah es gar nicht gern, wenn ich mit viel Lärm in der großen Diele und auch in der Küche umhersauste. Deshalb bekam ich auch wohl schon bald ein gummibereiftes Kinderfahrrad.
Draußen boten sich für uns Kinder viele ideale Plätze zum Spielen und Toben. Meine Schwester Ilse war 5 1/2 Jahre älter als ich, daher hatte ich etliche Spielgefährten aus der Nachbarschaft. Neben Ballspielen, Seilchen hüpfen oder "knickern" war es spannend, sich zu verstecken, ob im Holzstall, dem alten Backhaus oder der Bienenhütte.
Mein Vater wurde besorgt aufgefordert, den tiefen Brunnen dicht zu machen, bevor ich fünfjährige Göre da noch hineinfiel. Er war noch vollständig erhalten, gehörte unseren Nachbarn und uns gemeinsam, wurde aber nicht mehr benutzt. Die Mutter meines Vaters - sie zog sechs Kinder groß, war sehr früh verwitwet - hatte etwa zwanzig Jahre früher noch mühsam das Wasser mittels eines Eimers, einer langen Kette und einer hölzernen Rolle hinaufziehen müssen. Es war für den Haushalt, Vieh wurde im Teich getränkt.
Neben der Straße vor unserem Hof verläuft ein Graben. Ich weiß noch, daß wir dort nach Scherben suchten, besonders solchen mit schönen Blumenmotiven. Wir freuten uns über die "Fundstücke". Es gab ja noch längst keine Müllabfuhr, wir produzierten auch längst nicht so viel Abfall, und zerdeppertes Porzellan landete eben im Graben.
Mit fünf Jahren kam ich in die Meiningser Grundschule. Wir waren sechs "i-Männchen", drei Jungen und drei Mädchen. Lehrer Gerke, der schon unsere Eltern unterrichtet hatte, war nicht mehr so streng; er stand auch vor der Pensionierung. Ich kann mich nicht erinnern, jemals von ihm geschlagen worden zu sein. Aber einmal schickte er mich zu seiner Frau (sie wohnte nebenan im gleichen Haus): ich sollte ihr die Fliegen wegfangen. Sicher hatte ich in der Schule auf meinem Platz zu eifrig Fliegen gefangen und "entsorgt". Zu der Zeit gab es überall, besonders in den Viehställen, massenhaft Fliegen. Die Schwalben waren schon deshalb gern gesehene Gäste! Wohl ein halbes Dutzend Nester klebten unter der Deelen-Decke an den Balken und auch draußen unter dem Dachvorstand. Im Frühjahr kamen die Pärchen aus dem Süden zurück und zogen hier ihre Jungen groß. Wenn diese größer waren, konnten die Vogeleltern den Kot nicht mehr mit dem Schnabel forttragen, deshalb war unter jedem Nest ein rundliches Brettchen befestigt, welches aber einmal im Jahre von uns gereinigt wurde. Wo sind die Schwalben mit ihrem Gezwitscher geblieben?
Im zweiten Schuljahr zogen wir alle in die "neue" Schule. An der Wand, in der Mitte des Raumes, stand ein großer Eisenofen, der auch von Schülern befeuert wurde. Alle Klassen, vom ersten bis zum achten Schuljahr waren hier untergebracht und wurden von einem Lehrer unterrichtet. Insgesamt waren wir wohl um die vierzig Kinder. In drei Stufen, Unter-, Mittel- und Oberstufe eingeteilt, war es so, dass zwei schriftlich und eine mündlich unterrichtet wurden. Mir erging es mal so, dass sich Lehrer Dersch nicht nur auf meine Schulbank, sondern auch auf meine Tafel gesetzt hatte, während er die "Großen" unterrichtete. Später fragte er, wer denn da so geschmiert hatte. "Sie", antwortete ich und auf nochmalige Frage: "Du!" Lehrer Dersch war sehr musikalisch, einige von uns bekamen Blockflötenunterricht, und sonntags spielte er in der Kirche die Orgel. Es war eine Ehre, wenn wir mal den Blasebalg treten durften.
Meine Mutter erzählte aus ihrer Schulzeit, dass die Plätze im Klassenraum nach Leistung verteilt wurden. Lina Junker, ein Jahr jünger und somit eine Klasse tiefer, spornte sie besonders an. Der Vater, der mir noch vertraute, liebe alte Bäcker Junker, hatte seiner Tochter ein Fahrrad versprochen, käme sie auf den ersten Platz.
Im Winter waren wir Dorfkinder keine Stubenhocker. Ich meine auch, es wäre länger kalt gewesen, mit mehr Schnee als heute. Manchmal zogen wir mit unserem Schlitten bis hinter Röllingsen, wo die ziemlich abfallende Kreisstraße für uns ein Winterparadies war. Kein einziges Auto störte uns! War die Eisdecke eben dick genug, versammelten wir uns auf Blumendellers "Steinpott", um Schlittschuh zu laufen. Unser Teich war kleiner. Zu dritt, die Zwillinge Lene und Lisbeth Klein mit mir, schlugen wir mit einer Axt das Eis in Stücke, dann sprangen wir schnell von einer Scholle zur anderen. Es war sicher nicht ungefährlich, doch da der Teich nicht sehr tief war und unter den Augen meiner Eltern lag, ließ man uns gewähren. Unbewusst lernten wir schnell zu reagieren, sonst gingen wir im kalten Wasser "baden". Immer an der frischen Luft und in Bewegung habe ich als Kind nie einen Arzt gebraucht; das war aber wohl keine Ausnahme.
Heute, nach fast 70 Jahren, steht am Teichufer noch immer der Weißdornbusch, der sich ständig über seine bis ins Wasser ragenden Wurzeln verjüngt. Wie schade, dass die zierlichen Laubfrösche, die ich als Kind noch durch das grüne Blattwerk huschen sah, schon so lange verstummt sind! Viel erfreulicher ist der Bestand der Schleiereulen. Seit alten Zeiten heimisch auf unserem Strohboden, der sich über das ganze Haus zieht, wären sie vor etwa zwanzig Jahren nach einem sehr strengen Winter fast ausgestorben. Ein verhungertes Tier fand ich damals auf dem Boden und habe das wunderschöne goldfarbene Federkleid mit dem "weisen" Gesicht noch heute vor Augen. Seit einigen Jahren haben die Schleiereulen unter dem Haus- und auch dem Scheunendach einen großen Nistkasten. Geschützt ziehen sie jährlich ihre Jungen auf.
Als ich zwölf Jahre war, starb meine Schwester Ilse innerhalb weniger Tage an einer Blutvergiftung an der Oberlippe. Wenige Wochen danach wurde mein Vater als Reserve-Offizier eingezogen. Der zweite Weltkrieg begann! Für mich hieß das, dass ich immer mehr bei den täglichen Arbeiten auf Hof und Feld eingesetzt wurde. Es machte mir Spaß, besonders gern ging ich während der Erntezeit mit aufs Feld. Geschickt mussten die Getreidegarben hoch auf den Erntewagen gepackt werden und geschah das nicht ordentlich, konnte das ganze Fuder umkippen. Wie die Pferde wohl reagiert hätten? Was ich sehr ungern tat, war Rüben verziehen. Die damals noch dicht an dicht in Reihen stehenden jungen Pflanzen mussten erst mit der Hacke, und danach per Hand auf den richtigen Abstand gebracht werden. Dafür rutschte man stundenlang mit verbundenen Knien über den oft harten Acker. Es war schon "aufreibend", und abends war man "hundemüde"!
Vor Hunger waren wir Dörfler im Krieg verschont, doch litten wir auch unter Mangel. So freute ich mich sehr, als ich von meiner Freundin Hilde B. ein Lämmchen geschenkt bekam. Später besaßen wir zwei Schafe, und von der selbstgeschorenen, gewaschenen und gesponnenen Wolle strickten wir Pullover, Strümpfe oder einen warmen Schal. Zum Glück regierte kein Modezar über Trends und Schönheit! Aber was so mühsam erarbeitet war, wurde auch geschätzt und nicht so bald weggeworfen.
Einmal fingen wir in einer Kastenfalle einen fetten Dachs. Ich weiß nicht, wer uns ermunterte, daraus kostbare Seife herzustellen. Jedenfalls musste ich nach Soest, um aus einer Drogerie eine Chemikalie zu holen. Das Tier wurde abgezogen, ausgenommen und länger in einem großen Waschkessel im "Backs" gekocht. Am nächsten Morgen hatte sich an der Oberfläche eine dicke, dunkle Masse abgesetzt. In Stücke geteilt, war die "Seife" fertig! Sie reinigte zwar die Hände ganz gut, roch aber abscheulich. So versuchte man immer mit viel Fantasie aus der Not eine Tugend zu machen, und diese Jahre haben sicher die Beharrlichkeit und Beständigkeit meiner Generation geprägt.
Es war eine glückliche Kindheit!
05.02.2000
Auf dem Hof Brünger im Jahr 2000. (Foto von Axel Heymann)