Meiningser Erinnerungen [1]

Meine [2] Erinnerungen an Meiningsen beginnen mit dem 26.11.1945, einem kalten, trüben und leicht regnerischen Tag. Wir, meine Schwester Erda (8), mein Bruder Götz (6) und ich (9), wurden von Frau Sophie Crismann am fensterlosen und zugigen Soester Bahnhof begrüßt. (Unser jüngster Bruder Thur (3) kam erst 1948 nach.) Zu unserer großen Überraschung und Freude ging es mit einer Kutsche, gezogen von Fanni, in Richtung Meiningsen, wobei uns die starke Zerstörung der Stadt auffiel. Kaum auf dem Hofe Crismann angekommen, durften wir uns auf die große Holzkiste in der Küche links zwischen Tür und Herd setzen, bekamen jeder einen großen Becher mit heißer Milch und fühlten uns wohl. Und dieses Gefühl der Geborgenheit, das in jedem von uns beim Wort "Meiningsen" bis heute steckt, setzte sich fort, als wir abends in dem großen Zimmer oben rechts in riesige Betten gesteckt wurden, dickes Federbettzeug spürten und die schweren Balken unter der Zimmerdecke über uns sahen.

Wir lernten in den folgenden Tagen rasch Haus und Hof kennen, vor allem aber die Menschen, die dort lebten und arbeiteten: die Söhne Willi und Fritz Crismann, später auch den Bauern Fritz Crismann senior, Onkel Ernst Crismann, Herrn Willi Lappe, der das Regiment in der Landwirtschaft führte, die Melker, Gespannführer, Mägde, kurz die zahlreichen Menschen, die damals auf einem Bauernhof dieser Größe beschäftigt waren. Nicht zuletzt freundeten wir uns mit den vielen Tieren an. Jeder von uns hatte bald seine Lieblingstiere, ob das nun Maxe und Hexe, die dauerkläffenden Dackel waren, oder Prinz, der Hofhund an der Kette vor dem Deelentor, der die Zähne so gefährlich fletschen konnte, oder Moritz, der schwere Kaltblutbelgier mit dem breiten Rücken, auf dem man beim Mist-Festreiten im Spagat sitzen musste, oder die Katzen oder die Kälber oder, oder. Es tat sich für uns eine neue Welt auf.

Auf dem Hofe Crismann betreute uns Fräulein Ruth Sidro, unterstützt von Frau Grete Thabe, geb. Ruphoff, einer Cousine von Frau Crismann. Durch ihre Vermittlung war es erst gelungen, uns in Meiningsen unterzubringen.

In der näheren Umgebung des Hofes freundeten wir uns bald mit einigen gleichaltrigen Kindern an, und an unserer Lieblings-Freizeitbeschäftigung, dem Versteckenspielen, nahmen alle mit Begeisterung teil: Ditze Brunnstein, Inge und Hannes Schlak, Friedhelm Plöger und später auch Werner Faber sowie Roswitha und Willi Heinrich.

Wir mussten natürlich auch zur Schule gehen. Lehrer Schulte hatte es in diesen Wochen und Monaten nicht leicht: die Zahl der Schüler, die während des Krieges schon durch die Evakuierungen aus dem Ruhrgebiet angestiegen war, erhöhte sich 1945/46 noch einmal durch die vielen Vertriebenen. Wir saßen eine Zeitlang mit den Schuljahren 4-8 in dem einzigen Klassenraum, und zwar vormittags, die Schuljahre 1-3 dann in demselben Raum nachmittags. Nach einer Woche wurde gewechselt. Alle Schüler wurden von Lehrer Schulte betreut, bis Lehrer Prigge nach Meiningsen kam. Da wurde es ganz schön eng in den Reihen, und wenn dann noch einige von uns Lausebengeln in dem Augenblick, wenn Lehrer Schulte etwas an die Tafel schrieb, rasch die Ofenklappe aufrissen - der Ofen stand mitten im Klassenraum - und eine Handvoll Kastanien in den Ofen warfen, dann brauchte man nur einige Minuten zu warten, um im unpassendsten Moment Kanonenschläge zu hören. Kein Wunder, dass Lehrer Schulte mit einem Stock, den so mancher mal zu spüren bekam, Ruhe und Ordnung wieder herstellte. In Erwartung solcher Strafaktionen hatten wir uns in der Pause vorher schon mit dem Spruch: "Senge vergeht, Arsch besteht" Mut zugesprochen. Auch kam es einmal vor, dass Mitschüler Klaus sich einer solchen Bestrafung entziehen wollte. Er sprang ans Fenster, riss es auf und brüllte in Richtung Blumendeller, wo gerade eine ganze Mannschaft beim Mistfahren war: "Vatter, der will mir verkloppen!" Und Minuten später erschien der Papa, die Mistforke noch in der Hand, in der Tür des Klassenraumes und fragte drohend: "Watt is hier los?" Lehrer Schulte hatte dann große Mühe, diese Form der Elternbeteiligung am schulischen Erziehungsprozess zu unterbinden. Während der Pausen organisierten wir viele lustige Gruppenspiele auf dem Schulhof, eines hieß Kabuff; man durfte nur nicht den vielen Kaninchenställen, die der dicke Beming an der Mauer zum Hofe Blumendeller aufgestellt hatte, zu nahe kommen. Er achtete sehr auf die notwendige Ruhe für seine Lieblinge. Eine besonders intensive Erinnerung habe ich an Willi Crismann (geb. 1913). Willi Crismann trug ein schweres Schicksal: er war von Kindheit an durch Muskelschwund an beiden Beinen und beiden Armen behindert. Er war auf ständige Hilfe angewiesen und konnte das Haus nur selten verlassen. Wenn er mal zu seiner Tante auf den Hof Blumendeller oder zu seinem Onkel auf den Hof Carl Crismann oder sonstwohin wollte, musste ihn jemand in seinem einfachen Rollstuhl schieben. Das war für uns, besonders in der kalten und nassen Jahreszeit, bei den unbefestigten Wegen in Meiningsen eine schwere Arbeit. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er auf seinem Sofaplatz im Wohn-Esszimmer des Hauses links vom Eingang. Er freute sich über jeden Besuch, ob seine Cousine Lore "mal eben über das Mäuerchen" kam, ob einer der Bauern mal reinschaute und etwas mit ihm besprach oder ob Viehhändler Roberts aus Epsingsen Neuigkeiten brachte, alles war ihm willkommen. Willi Crismann hatte viel gelesen, und ich habe seine Bücher auch gelesen. Er unterhielt sich dann gerne mit mir und erkundigte sich, ob ich auch alles verstanden hatte. Der erste Weltkrieg war für ihn ein besonderes Studienfeld, wobei es ihm besonders der Seekrieg angetan hatte. Auch beschäftigte er sich mit den Gedanken der Mathilde Ludendorff, die ich allerdings nicht so recht verstand. Ich mochte eher seine Jugendbücher, besonders die älteren Jahrgänge von "Der gute Kamerad". Später, Ende 1949, drückte er mir ein Buch von Ricarda Huch "Michail Bakunin und die Anarchie" in die Hand. Davon weiß ich nur noch, dass Studienrat Wünderich am Aldegrever-Gymnasium mit dem rechten Zeigefinger sich sacht an die Stim fuhr, als wir nach den Weihnachtsferien erzählen sollten, was wir denn so gelesen hatten und ich mit diesem Titel herausrückte. Für Willi Crismann waren Radio und Zeitung von größter Bedeutung. Er hatte neben sich einen großen Rundfunkempfänger, der während der Plünderungen im Sommer 1945 unter Stroh versteckt war. Die Nachrichten, den Landfunk und auch Konzerte hörte er regelmäßig. Besonders gern machten wir sonntags nachmittags bei der Ratesendung mit Just Scheu mit. Er las regelmäßig eine Soester und eine überregionale Zeitung, und manchmal hatte er mittags, wenn ich aus der Schule kam, schon einige Meldungen angestrichen, die ich sofort lesen musste und auch gerne las. Willi Crismann hatte sich eine große, klare und regelmäßige Handschrift angewöhnt. Er schrieb mit beiden Händen, indem er sie gegeneinander drückte und den Füller einklemmte. So erledigte er auch die Buchführung des Hofes. Seine Eltern hatten ihm in den dreißiger Jahren eine riesige Freude gemacht, indem sie ihm eine Hühnerfarm eingerichtet haben. Er war ein Spezialist für Hühnerzucht und Haltung geworden, und in den "Äppelhöfen" standen mehrere Holzhäuser als Ställe. Alle Fragen, von Krankheitsbekämpfüng bis Vermarktung der Eier, waren seine Leidenschaft, und erst die letzten Kriegsjahre hatten seine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Diakonissenhaus in Witten zum Erliegen gebracht.

Ein Erlebnis habe ich besonders deutlich in Erinnerung: Wir fuhren zu mehreren Personen mit der Kutsche nach Soest. Der Teil des Deiringser Weges zwischen Jakobitor und Ringstraße war für Deutsche gesperrt, und man musste den Umweg über den Westenhellweg nehmen. Zwischen der Einmündung der Pagenstraße und dem Kleinbahnhof hatten die Briten in einem Haus ihre Standortkommandantur, vor dem Hause stand ein Posten unter Waffen neben der britischen Flagge. Jeder vorübergehende Deutsche muhte den Hut ziehen, das wollte Willi Crismann nicht. Kurz vor dem Kleinbahnhof Jakobitor sagte er zu mir: "Nimm mir mal den Hut ab!" und wir zockelten gemächlich an der Fahne vorbei. Kaum waren wir in der Jakobistraße, musste ich ihm den Hut wieder aufsetzen. Diese Anordnung empfand er als Schikane, was ihn aber nicht hinderte, sich für meinen Englischunterricht zu interessieren.

Kurz vor der Währungsreform gelang es der Familie Crismann, für Willi einen gebrauchten Elektro-Krankenfahrstuhl zu bekommen. Damit änderte sich sein Alltag gewaltig. Zwar bereiteten ihm Lenkung, Beschleunigen und Bremsen zunächst große Schwierigkeiten, aber nach einigem Experimentieren fühlte er sich sicherer und konnte nun im Dorfe sich frei bewegen. Da über der hinteren Achse mit den kleineren Lenkrädern ein wenig Platz war, konnte ich auf einem Brett sitzen oder knien und mitfahren. Unsere erste Fahrt nach Soest verlief allerdings chaotisch. Ab dem Wasserwerk fällt die Straße stark ab, ,die Meiningser Grund' genannt, und auf der linken Seite, da wo heute die Böschung zur Autobahn ist, verlief ein ziemlicher tiefer, breiter und langer Graben. Zunächst geriet das Fahrzeug in Schlangenlinien, die wurden immer enger, dabei die Geschwindigkeit größer, Willi Crismanns Hut flog davon, ich versuchte, hinter ihm kniend, den Hut zu fassen, kippte aber im gleichen Augenblick rechts in den flacheren Straßengraben, während der schwere Elektrofahrstuhl nach links sauste und mit einem Ruck von einem Apfelbaum gebremst wurde. Willi Crismann war unmittelbar davor rausgeschleudert worden und hatte eine leicht blutende Kopfwunde davongetragen. Ich sammelte alle Gegenstände ein, und wir überlegten zusammen, wie wir alles möglichst unauffällig wieder in Gang setzen konnten. Da kam langsam ein Fuhrwerk die Straße herauf (aus Hewingsen), der Gespannführer half uns, und zum Schluss konnten wir wieder zurückfahren. Willi Crismann "verdonnerte" mich zu strengstem Stillschweigen, denn er wollte seiner Mutter keinen Schrecken einjagen. Die Beule am Kopf musste anderweitig erklärt werden.

Insgesamt bedeutete diese Fortbewegungsmöglichkeit für Willi Crismann eine ungeahnte Ausdehnung seiner Aktivitäten. Jetzt konnte er nach Soest fahren, an politischen Veranstaltungen teilnehmen oder als Zuschauer Sportwettkämpfe besuchen (er fuhr gerne zum Boxen), jetzt konnte er Menschen besuchen, anstatt warten zu müssen, bis jemand kam, jetzt konnte er selber an die Felder ranfahren und sich informieren. Gerne nahm er auf dem Rücksitz jemanden mit, später, als ich zu groß geworden war, meinen Bruder Götz, und die Pflege dieses Fahrzeugs, insbesondere das Wieder-Aufladen der Batterien, war für uns alle ein wichtiges Ereignis.

Willi Crismann hat sein Schicksal mit bewunderungswürdiger Haltung gemeistert, und im gleichen Atemzug muss seine Mutter Erwähnung finden, weil sie Tag für Tag in allerengster Weise ihrem Sohn zur Seite stand und sein tägliches Leben begleitete oder erst als lebenswert ermöglichte. Nach seinem plötzlichen Tod im Herbst 1952 war es für mich eine traurige Pflicht, den Elektrofahrstuhl nach Soest zu einer Reparaturfirma zum Verkauf zu fahren. Mir gingen dabei noch einmal alle Ereignisse durch den Kopf. In den Wintermonaten gehörte auf dem Hofe Crismann, wie auch in vielen anderen Häusern in Meiningsen, das Schweineschlachten zu den Höhepunkten. Früh morgens schon kam Hausschlachter Buck mit seiner Messersammlung, schliff jedes ausführlich, und wenn das Schwein dann ausgekühlt war, ging's an die aufwendige Arbeit. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass so viele Personen daran beteiligt waren oder dass vorher eine Genehmigung eingeholt werden musste, denn ohne eine solche handelte es sich um Schwarz-Schlachten, und das war wegen der Lebensmittelbewirtschaftung verboten. Wenn dann alles eingesalzen oder in den Gläsern war, hatte man als Kind schon eine Menge über die 100prozentige Verwertung eines Schweines gelernt. In den übrigen Jahreszeiten wusste man das zu schätzen, wenn es mal Stielmus mit Schinken oder Sauerkraut mit Eisbein gab.

Ein anderes Großereignis in den Wintermonaten (neben den immer wiederkehrenden Arbeiten wie Dreschen oder Mist fahren) war ab 1947 die Treibjagd. Jagdherr Fritz Crismann lud dann neben seinen Freunden auch englische Offiziere ein, aus gutem Grund, denn nur die konnten auch für die deutschen Jäger die Jagdwaffen mitbringen. So manche Flinte mochte über die Beschlagnahme hinweg noch in irgendeinem Versteck ruhen, offiziell benutzt werden durften sie noch nicht. Ernst Crismann organisierte dann die Treiberschar, und wir stolperten unter seinem Kommando in unseren Holschken über die gefrorenen Äcker und schrien regelmäßig: "Haas up, Haas up!!" Wenn der Kessel dann enger wurde, knallte es an allen Ecken und Enden, und die Hasenstrecke war gewaltig. Während des Treibens stieg oft - für heutige Verhältnisse undenkbar - eine Kette Rebhühner auf und konnte unbelästigt abstreichen. Abends fand dann ein fröhliches internationales Schüsseltreiben statt, bei dem ich schon mal meinen ersten Korn probierte. Und auf einem Bein kann man ja nicht stehen, und so weiter und so weiter. Bei einer Baujagd in der Meiningser Grund, dabei werden Dackel in einen Fuchsbau geschickt, haben Fritz Crismann, zwei Jagdgäste und ich als Spatenträger einmal, als der treue Dackel sich tief im Bau verbiss und nicht mehr heraus konnte, gemeinsam auf den tüchtigen Hund eine Flasche Korn geleert, weil er auch nach Stunden trotz eifrigen Nachgrabens nicht wieder zum Vorschein kam.

Ein anderes schwieriges Problem waren die Verkehrsverhältnisse. Zwar fuhr der RLE-Bus im wöchentlichen Wechsel mit den bewährten Fahrern Spork und Müller, aber ab Günne über Theiningsen und Deiringsen waren schon zu viele Personen an Bord, so dass im Winter 1947 die RLE-Leitung sich für die Meiningser Fahrgäste eine Sonderregelung ausdachte: Die eine Hälfte ging morgens zur Bushaltestelle an der Schmiede, die andere musste nach Ampen zur Kleinbahn gehen. In der Woche drauf wurde gewechselt. Meist trafen sich die Bahnfahrer bei Junker am Knapp, um gemeinsam durch die dunkle Landschaft zu marschieren, da ich aber oft spät dran war, sah ich dann an den Spuren im Schnee, dass es höchste Zeit wurde. Im Zug wurde ich anschließend gehörig auf den Arm genommen. 1949 lernte ich Familie Lücker kennen, die auf dem Rienhof, damals sagte man allgemein Rissenhof, als Verwalter tätig war.

Rienhof 1950ca. 1950
Hof Risse (Rienhof). (Foto von Dieter Risse)

Da ich in den Sommerferien 1950 gerne arbeiten wollte, fragte ich Herrn Lücker, ob er jemanden zusätzlich gebrauchen könne. Für DM 2,- pro Tag konnte ich beginnen. Auf dem Rienhof war nun wieder alles ganz anders, allein die größere Zahl der Pferde, der Kühe, der Schweine zeigte, dass hier Landwirtschaft in größerem Rahmen betrieben wurde. Auch die Zahl der Personen, die auf dem Hofe arbeiteten, war größer als ich es bisher gesehen hatte. Die Ernte stand vor der Tür, und man hatte mit den Vorbereitungen alle Hände voll zu tun. Herr Lücker fühlte sich von Anfang an für mich verantwortlich, ich wurde so eine Art inoffizieller Lehrling. Das bedeutete, dass ich nicht nur an den allgemeinen Arbeiten teilnehmen musste, sondern von ihm mit allerlei Theorie der Landwirtschaft bedacht wurde. So stellte er mir einmal die Aufgabe, genau zu berechnen, was für Futter eine Sau mit 8 Ferkeln bekommen muss, ein anderes Mal herauszufinden, wann der Abfohltermin bei einer Bedeckung am 1. Juni ist oder zu erklären, wie ein Mähbinder eingefädelt werden muss. Mir machte das Spaß, auf der anderen Seite fand ich es aber auch spannend, was mir während der Arbeit ‚Jonny' und ,Amigo' an Aufklärung zuteil werden ließen. Die beiden waren von den Engländern bei einer Razzia in Hamburg aufgegriffen und in den Kreis Soest zu landwirtschaftlicher Arbeit verfrachtet worden. Sie mussten sich wöchentlich bei der Polizei melden.

An den heißen Tagen schwitzten wir alle auf den Feldern ganz fürchterlich, und so freuten sich alle auf das Zeichen zur Mittagspause. Das war nämlich die zunächst kleine weiße Wolke am Stadtrand von Soest, die rasch größer wurde und bald vom Läuten und Pfeifen ergänzt wurde. "Pengel Anton" erschien pünktlich. Ich wurde noch schnell zu Bals geschickt, um Zigaretten für diesen, Kautabak (Hanewacker) für jenen zu kaufen, und dann wurde Mittag gegessen. Frau Lücker hatte vorher mit einem Stück Metall gegen die alte Pflugschar, die neben der Küchentür hing, geschlagen, und jeder auf dem Hofe konnte das hören. Sie hatte täglich für eine große Zahl von Menschen zu kochen, und beim Essen flog das Gespräch immer fröhlich hin und her. Manchmal mussten wir auch schrecklich lachen, wenn z.B. morgens davon die Rede gewesen war, dass die Kuh "Nonne" bullig sei (manche sagten "össig"), und Herr K., der im Stall die Aufsicht hatte, in das Mittagessen reinplatzte: "Schäf, auf der Nonne hab ich laßt die Bulle ruff".

Ein besonderes Augenmerk wandte Herr Lücker auf die Pferdezucht. Zuchtstute war Laura, mittelschwer und unberechenbar. Er wollte keine Kaltblutzucht, wie es in Meiningsen üblich war, sondern bevorzugte Warmbluthengste. Die Nachzucht war dann temperamentvoller und schneller. Alle Töchter begannen mit dem Buchstaben F (Forelle, Florette, Fee). Mutter Laura aber hatte ein Temperament eigener Art. Als wir einmal Futterrüben aufluden, die tragende Laura vor der halb gefüllten Sturzkarre, und wir uns über den nassen und schweren Boden ärgerten, hörten wir plötzlich ein quiekendes Wiehern, der Schweif ging hoch, und Laura galoppierte ab über den schweren Boden in Richtung Epsingsen. In der Bodensenke, wo heute die Autobahn verläuft, stand sie später und ließ sich anstandslos nach Hause führen.

Herr Lücker brachte mir auch andere Fertigkeiten bei, die in Meiningsen weniger bekannt waren: z. B. das Fahren mit der Kreuzleine, auch vierspännig, vom beladenen Fuder aus. Das machte doch Spaß, auf solch einem schwankenden Gefährt vom Feld bis in die Scheune zu fahren. Manchmal nahm er mich sonntags mit, um die Felder auszumessen. Er hat alle Flurstücke vermessen, mir dabei Bodenklassen, Fruchtwechsel und unterschiedliche Bearbeitungsmethoden erläutert. Dazu gehörte auch, dass er eines Tages einen Beetpflug anschaffte. Einige Bauern aus Meiningsen schauten sich das Gerät bei der Arbeit an, und es entstanden viele Fachdiskussionen.

Auch beim Schmied Goldner, der in der hofeigenen Schmiede arbeitete, half ich, insbesondere musste ich "Hufe hochhalten", wenn Pferde beschlagen wurden. Der beißende Geruch von verbranntem Huf sitzt mir heute noch in der Nase. Bei Herrn Lückers Schwager Gerhard Kutsch lernte ich neben dem richtigen Melken einer Kuh auch viele Einzelheiten der Pferdepflege, die mir 40 Jahre später, als ich selbst einen Trakehner besaß, sehr nützlich waren. Und wenn Frau Lücker in der Woche mal eine ostpreußische Flinsensuppe gekocht hatte, dann war das für mich der Himmel auf Erden.

Hauptereignis im Sommer war das Erntefest, Harkemai genannt. Dann tischte Frau Lücker weitere Köstlichkeiten auf, Herr Dr. Risse kam aus Soest und erzählte von alten Zeiten, und die Stimmung aller Anwesenden wurde ausgelassen. Ich habe es später abends vorgezogen, mein Fahrrad durch die Springstraße zu schieben.

Dr. Carl Risseca. 1950
Die Stute Florette mit Dr. med. Carl Risse. (Foto Dieter Risse)

War das Leben vor 50 Jahren nun so leicht, wie es sich hier manchmal anhört, oder hat man die schwierigen Zeiten nur so in Erinnerung? Natürlich haben wir als Kinder die Probleme erlebt: Wenn z. B. 1946 ein englischer LKW mit auf der offenen Ladefläche stehenden Menschen auf Blumendellers Hof schwankte und beim Bürgermeister einfach seine menschliche Fracht ablud mit der Auflage, die Ostvertriebenen im Dorfe unterzubringen. Das war für alle Seiten nicht einfach und führte zu Reibereien. Schließlich aber wurden die Vertriebenen doch integriert, und zu den Weihnachtsfeiern im Saale Bals spendeten die Bäuerinnen Kuchen. Auch erinnere ich mich an die regelmäßigen Stromsperren, die eine gewaltige Behinderung aller Arbeiten in Haus und Hof darstellten. Dieses Abschalten der Elektrizität war so regelmäßig, dass wir 1947 in Soest sogar einen Aufsatz zum Thema "Stromsperre" schreiben mussten. Man nahm die Dinge eher so, wie sie waren, ohne sich groß aufzuregen. Arbeit gab es in Hülle und Fülle, und jeder konnte irgendwo anpacken. Für die meisten Meiningser stellte das Schützenfest eine gute Gelegenheit dar, die Tradition weiterzuführen, vom Alltagstrott abzulenken und Freude in der Gemeinschaft zu haben. Das ist sicher auch heute so. Aber denkt irgend jemand heute noch an die Theaterstücke, die Lehrer Schulte mit Jungen und Alten einstudierte und die im Schützenhaus aufgeführt wurden? Gibt es heute noch das fröhliche Faschingssingen der Kinder in Verkleidung? "Düdelütken Fassenacht, wi hem gehört, ihr heft geslacht und heft so scheune Worst gemacht. Gib mir ene, gib mir ene, aber nich so ne ganze kleene, laß das Messer sinken, tief in den Schinken. Laß mich nich so lange ston, ek mot noch'n Heusken weitergon." Spielen Kinder im Winter noch mit Hingabe Eishockey? Crismanns Teich ist ja schon lange zugeschüttet.

Meiningsen hat sich verändert, aber nicht zu seinem Nachteil. Wenn man im Internet die Homepage anklickt, kann man sich nur freuen. Und als ich im Sommer 2000 meiner Schwester Erda im fernen Alaska riet, doch im Internet mal nachzuschauen, bekam ich postwendend die E-Mail: "Mensch Meier, was hat sich die Welt verändert!!! Aber es war eine reine Wonne, die Homepage von Meiningsen zu lesen. Man müsste wirklich mal wieder da vorbeifahren."

Fritz und Sophie Crismannca. 1975
Fritz und Sophie Crismann verbrachten ihren Lebensabend in Ampen, ca. 1975. (Foto von Ulf Loewer)

Quelle

  1. Ulf Loewer) in:
    Dela Risse: Meiningsen im Wandel der Zeit. Siehe Literaturverzeichnis.
  2. Ulf Loewer: 1936 bin ich in Breslau zur Welt gekommen und habe mit Eltern und drei jüngeren Geschwistern bis 1945 in verschiedenen Regionen des ehem. Deutschen Reiches gelebt. Nach dem Tode unserer Mutter im Herbst 1945 im Sudetenland kamen wir Kinder nach Meiningsen und haben dort die entscheidenden Jahre unserer Jugend verbracht. 1948 gab es das Wiedersehen mit unserem Vater, und im selben Jahr wurden wir wieder eine Familie. 1953 verzogen wir an den Niederrhein. Ich habe nach dem Schulabschluss dort an den Universitäten Köln und Marburg die Fächer Deutsch, Geschichte und Politik studiert und war anschließend in Lemgo bis 1999 Lehrer an einem Gymnasium. Ich bin verheiratet mit der Internistin Dr. Heinke Loewer, wir haben eine Tochter, die in Padua als Tierärztin lebt.