Meiningsen war ein Ort, an dem ich mich schmutzig machen konnte. Meiningsen war ein Ort, an dem ich barfuss über die Straße und Wiese laufen durfte, ohne dass jemand sagte: "Junge, pass auf, dass du dich nicht erkältest!" Meiningsen war ein einziger großer Abenteuerspielplatz für einen kleinen, zurückhaltenden Stadtjungen. Da gab es - auf dem Hof von Heinrich Blumendeller - einen alten, stets angriffslustigen Puter, der jeden, der an ihm vorbei wollte, mit lautem Geplärr verfolgte. Der Puter hat mich nie erwischt, aber ich hatte einen Mordsrespekt vor dem Federvieh. Da gab es riesige Scheunen, bis ans Dach mit Stroh gefüllt. Wenn man sich da versteckte, fand einen kein Erwachsener mehr. Es gab Trecker, auf die ich mich heimlich setzen konnte. Wenn man die richtigen Hebel oder Schalter drückte, setzten sie sich sogar in Bewegung. Dann sprang ich schnell herunter und versteckte mich in den Strohballen.
Meiningsen war eine ganz andere Welt als die, die ich täglich in Bochum und später in Dortmund erlebte. In Stadtwohnungen haben alle Dinge ihren festen Platz, auf den Bauernhöfen in Meiningsen hatten sie viele Plätze. Die Leute waren bodenständig, unkompliziert, legten weniger Wert auf Etikette und Selbstdarstellung. Wenn die Kaffeetafel gedeckt war, durfte jeder beherzt zugreifen. Es durfte immer ein Stück mehr sein, und wenn ein Gast zum Kaffee keinen Wert auf süßes Backwerk legte, so schmierte er sich eben ein Wurstbrot oder zwei oder drei.
Um den Kuchen kreisten die Fliegen. Einige Insekten blieben zwar an den langen,
klebrigen Fäden, die von der Decke herunterbaumelten, hängen, aber durchs
Fenster kamen ständig neue hereingeflogen. Das störte im Grunde keinen, denn die
Fliegen gehörten dazu wie die Katzen, die in den Kellerfenstern hockten, der
Stallgeruch, wie das Grunzen des Borstenviehs.
"Die Leute", von denen hier die Rede ist, sind vor allem die Familien
Blumendeller und Hengst. Meine Großeltern hatten sie vor dem Krieg kennen
gelernt, als sie aus einem kleinen Städtchen in der Pfalz in die Soester Börde
zogen. Mein Großvater trat damals eine Lehrerstelle in Meiningsen an, die
Großmutter spielte die Orgel in der Dorfkirche. Man sagt, er soll ein strenger
Lehrer gewesen sein. "Aber aus den meisten, die er unterrichtete – sogar aus den
schlimmsten Lausbuben - ist später etwas Anständiges geworden", meinte die Oma
später.
"Zu Blumendellers und Hengst konntest du immer gehen. Da war die Tür nie verschlossen" erzählt die Oma noch heute. Ende der 60er Jahre zogen die Großeltern nach Soest, doch die Kontakte zum Dorf blieben erhalten. "Ich fahre nach Meiningsen, kommst du mit?", fragte meine Oma, wenn ich sie besuchte. Dann setzte ich mich schnell in ihren kleinen blauen VW und wartete ungeduldig darauf, dass die Oma endlich ihre Frisur in Form brachte und losfuhr.
Manchmal fuhr die Oma zum Wursten nach Meiningsen. Dann stand sie mit gebeugtem Rücken über einer riesigen Schüssel und knetete eine undefinierbare Masse, die später in Gläser gefüllt und gekocht wurde. "Ist da Blut drin?", wollte ich wissen. "Was denkst du denn? Ist doch Blutwurst", sagten die Frauen in der Küche. Das mag einem kleinen Jungen schon den Appetit verderben, doch das, was da in den Gläsern kochte, war letztlich so lecker, dass ich schnell vergaß, was wirklich drin war. Solche Blut- und Leberwurst gab und gibt es in keinem Supermarkt, auch in keiner Metzgerei. Wie alt diese Rezepte wohl sein mögen?
Ehrlich gesagt, waren nicht alle Erinnerungen angenehm. Es gab sogar Tage, an denen ich nicht die geringste Lust verspürte, mit der Oma aufs Dorf zu fahren: immer dann, wenn die Frauen aus Meiningsen zur Heißmangel nach Deiringsen zogen. Klatsch und Tratsch von acht oder neun Frauen am Bügeltisch. Das hält schon nach einer halben Stunde kein Kind mehr aus. Aber es gab kein Entkommen. Ich musste bleiben, bis das letzte Bettlaken, das letzte Kopfkissen durch die Maschine gezogen wurde. Und zwischen jedem Wäschestück gaben die Damen die neuesten Nachrichten zum Besten: "Hast du schon gesehen, was die Heddi für einen Mantel gekauft hat? Wo hat sie denn das Geld her? Die muss ganz schön was auf der hohen Kante haben." Auch der Pfarrer bekam bei dieser Gelegenheit sein Fett weg und eigentlich alle, die gerade nicht bei der Heißmangel waren. Vielleicht gingen die meisten regelmäßig dorthin, auch wenn gar nicht so viel Wäsche geplättet werden musste.
Einmal im Jahr war Schützenfest. Dann zogen alle mit grün-weißen Uniformen, Fahnen und Instrumenten durch die Straße. Marschmusik ertönte, wir Kinder liefen hinterher, immer bemüht, den Gleichschritt zu halten. So ein Schützenfest war für kleine Leute ein höchst beeindruckendes Erlebnis. Die großen Leute mit ihren schmucken Anzügen und Hüten, das Königspaar in einer Kutsche - was für ein Anblick. Wenn so ein Festtag vorüber war und bei Bals der letzte Zapfhahn hochgedreht wurde, hatten die Männer und Frauen eine gesunde, rote Gesichtsfarbe. Auch gingen sie nicht mehr oder nur mit Mühe geradeaus. Das Liedersingen und der Genuss von Bier und Korn machten nicht nur fröhlich, auch der eine oder andere Seitensprung soll so erst möglich geworden sein.
Ich erinnere mich, dass eine Tochter der Blumendellers ganz offiziell mitmarschieren und Querflöte spielen durfte. Darum hatte ich sie beneidet, und ich nahm mir vor, auch Querflöte zu lernen. Überhaupt war B. ein Vorbild für mich. Erstens war sie sechs Jahre älter. Das ist schon was, wenn man selbst erst acht ist. Zweitens hatte sie ein eigenes großes Zimmer, in das niemand ging, um sich über herumliegende Sachen zu beschweren. Drittens ließ sie sich von keinem Erwachsenen etwas sagen, und das war überhaupt das Beste. Jeder Versuch, es ihr gleichzutun, war allerdings zum Scheitern verurteilt.
Auf dem Hof wurde viel gespielt. Skat, aber vor allem Canasta. Frau Hengst und meine Oma spielten leidenschaftlich gern und bewahrten nach verlorenen Spielen nur mit Mühe die Fassung. Wehe, eine der Frauen machte einen Fehler oder wurde beim heimlichen Kiebitzen unter den Kartenstapel erwischt. Dem alten, stets freundlich lächelnden Onkel Ditz Hengst waren diese Duelle am Spieltisch reichlich egal. Er saß stumm dabei, zog an seiner dicken, schwarzen Zigarre oder zog mit Hut, Spaten und Rechen in seinen kleinen Garten vor dem Haus.
Die uralten und knorrigen Apfelbäume auf den Weiden hinterm Hof trugen reichlich Früchte. Fleckig und unförmig waren diese Äpfel, von den Vorgaben einer EU-Verordnung sind sie so weit entfernt wie die Matthiaskirche vom Kölner Dom. Manchmal steckte auch ein Wurm darin. In einem Geschäft würde ein Kunde diese Äpfel verschmähen. Doch sollte man Obst nicht nach seinem Aussehen, sondern nach seinem Geschmack beurteilen. In dieser Hinsicht brauchen Meiningser Äpfel sicher keinen Vergleich zu scheuen. Und eine Giftspritze, das ist gewiss, haben diese Bäume zum Glück nie gesehen.
Meiningsen hat sein Gesicht verändert. Neue Eigenheime stehen dort, wo vor dreißig Jahren Rüben, Weizen und Mais wuchsen. Moderne Fassaden und Vorgärten füllen die Lücken zwischen dem traditionellen Fachwerk. Die Hauptstraße hat einen neuen Asphalt bekommen, der Zapfhahn bei Bals wurde schon vor langer Zeit abmontiert. Immerhin: Schützenfest feiern sie hier noch immer- die echten Meiningser und die Neubürger zusammen. Wenn ich heute von Soest nach Dortmund fahre, mache ich gern den kleinen Umweg hierher. Nicht nur, um das neue Meiningsen zu sehen, sondern um einige von den Erinnerungen wach zu halten, die oben beschrieben sind. Der Stallgeruch liegt immer noch über dem Dorf, die Kirche steht an ihrem Platz, die Fliegen sind auch noch da. Vielleicht sollte ich mal bei Hengst oder Blumendeller hereinschauen, um nach dem Wurstrezept zu fragen. Ich wette, die Tür ist nicht verschlossen.