Wenn ein Bauer oder ein junger Mann heiraten wollte, so mußte er natürlich beim Gutsherrn darum fragen. Das war ja auch sehr wohl angebracht, weil er sonst keine Wohnstätte hatte. Man konnte nicht irgendwo eine Wohnung mieten, sondern alles war in der Hand des Gutsherrn. Um eine Familie zu gründen, brauchte man nicht nur eine Wohnung, sondern auch einen Lebensunterhalt. Der Gutsherr sorgte in seinem Gutsbezirk für Nahrung und Kleidung.
Eine Bauernhochzeit, an der alle Dorfbewohner und auch für kurze Zeit der Gutsherr teilnahmen, wurde nur im Mai oder Oktober abgehalten, wenn die dringenden Landarbeiten vorbei waren. Morgens war feierlicher Kirchgang und Trauung sowie Eintragung in das Kirchenbuch. Standesamt gab es noch nicht. Bei dem feierlichen Festmahl zu Mittag ging die Braut quer über den Tisch an ihren Platz. Lebensmittel waren bei solchen Festen immer genug vorhanden, alkoholische Getränke lieferte das Gut erst nach Sonnenuntergang. Nach alter Sitte und Verpflichtung wurde die Braut am Abend in feierlichem Zuge zur Burg gebracht und vom Gutsherrn freundlich empfangen. Nachdem sie in einem schönen Zimmer der Burg die Nacht verbracht hatte, wurde sie am anderen Morgen in ebenso feierlichem Zuge wieder abgeholt. Als Hochzeitsgeschenk erhielt die Braut vom Gutsherrn 3-5 Ellen Leinwand.
Diese Verpflichtung der Braut, eine Nacht in der Burg zu schlafen, wurde mit den lateini-schen Worten jus primae noctis bezeichnet.
Wenn nun jemand glaubt, daß diese Verpflichtung als ein großer Schimpf oder als eine Unterwürfigkeit empfunden wurde, dann ist das ein Irrtum. Wenn der Gutsherr die Braut annahm, dann war dies nach damaligen Begriffen auch für den jungen Mann eine außerordentliche Ehre. Man muß bedenken, daß die Ansicht von Moral und Tugend, Gut und Böse im Wandel der Zeiten einer großen Veränderung unterlag. Von dem Gutsherrn wurde noch lange nicht jede Braut angenommen. Eine Bauernhochzeit fand nur einige Male im Jahr statt.
Noch etwas ist bemerkenswert. Wenn ein junger Mann eines betreffenden Gutsbezirkes mit einem Mädchen aus einem anderen Gutsbezirk ein Verhältnis anknüpfte, das nicht ohne Folgen war, dann hatte der Gutsherr des Mädchens eine Forderung an den Gutsherren des jungen Mannes. Dieser Fall lag schon gesetzlich fest unter der Bezeichnung „autela lecti“. Die Forderung wurde in den meisten Fällen durch einige Schafe, ein Rind oder eine Kuh ausgeglichen. Im Gutsbezirk des Mädchens wurde das Deputat für eine Person erhöht. Das Mädchen selbst hatte wenig darunter zu leiden. Der Mangel an Arbeitern war sehr groß; seitens des Gutsherrn des Mädchens wurde über so etwas hinweggesehen. Anders war das natürlich bei dem Gutsherrn des jungen Mannes, weil dieser ja bezahlen mußte. Es kam vor, daß der betreffende junge Mann für eine Nacht an den Pranger gestellt wurde, und das war für ihn eine sehr unangenehme Sache.
Erwähnenswert ist noch, daß von selten des Gutsherrn häufig auf seinen Bauernhöfen Kontrollen abgehalten wurden, und zwar über die vorhandenen Lebensmittel, Getreidevorräte, Viehbestände usw. Wenn ein Gutsherr einen seiner Bauernhöfe betrat und seinen Speer an den Türpfosten stellte, mußten sämtliche männlichen Personen, auch der Ehemann, den Hof verlassen. Ob solche Besuche nun ausschließlich der Kontrolle oder vielleicht einer ehemaligen jus primae noctis-Braut galten, war nicht festzustellen. In letzterem Falle wird die später erfolgende Kontrolle erheblich an Schärfe verloren haben.
Vorstehendes ist etwas absonderlicher Art, aber es wirft ein Licht auf den damaligen Zeitgeist.
In polnischen Gegenden soll der jus primae noctis-Brauch um 1900 noch aus freiem Entschluß geübt worden sein. Besonders der weibliche Teil der dortigen Bevölkerung soll sich mit Begeisterung für die Erhaltung dieses Brauches eingesetzt haben. (Anmerkung des Verfassers: „Ja, ja, diese Weiber“.) Aber Marinka, was maachs du.
Auch während der Leibeigenschaft kamen schwere Unruhen vor, die sog. Bauernkriege. Selbst Martin Luther hat sich zu Beginn der Bauernkriege für die Ansprüche der Bauern eingesetzt, sich aber kurze Zeit später, als der revolutionierende Volkshaufen saufend, fressend und mordend durch die Lande zog, davon abgewandt und die vollständige Vernichtung dringend empfohlen. Er selber schreibt, daß er den Wankelmut der Massen erfahren und noch mit knapper Not sein Leben retten konnte. Alsdann fordert er die Fürsten zur schonungslosen Behandlung der Empörer auf. Bei Frankenhausen wurden die Bauernheere am 15. Mal 1525 unter ihrem Anführer, Thomas Münzer, restlos aufgerieben. Der Aufstand hat an der Schweizer Grenze begonnen und nahm bei Frankenhausen (Thüringen) sein Ende. Westfälische Lande sind von solchen Katastrophen nicht betroffen worden, weil die meisten Gutsherren mit ihren leibeigenen Knappen, Kriegsknechten usw. eine ziemliche Verbundenheit an den Tag legten. Zu großen Aufständen fehlte die Ursache, Die Gutsherren waren in ihren Gutsbezirken für Ruhe und Frieden verantwortlich. In alter Zeit waren verschiedene Strafen üblich, u. a. das Stehen am Pranger. Man kennt heute noch das Wort „anprangern“, d. h., etwas der Öffentlichkeit zeigen. Diese Bezeichnung stammt aus uralter Zeit. Gefängnisse im heutigen Sinne kannte man damals nicht. In. den Städten kamen Menschen, die irgendetwas verbrochen hatten, in den Turm. Bei schweren Verbrechen wurden sie durch den Galgen hingerichtet. Es gibt heute noch eine Menge Städte, wo man Plätze kennt, die „Am Galgen“ heißen. Der Pranger war in den Städten selten und eines der gelindesten Strafmittel. Dieser Eichenstamm von ca. 30 cm Durchmesser und 2,5 m Höhe hatte oben einen Holzpflock, der an beiden Enden aus dem Stamm herausragte, unten waren zwei Fußklemmen angebracht, in die die Knöchel des jeweils am Pranger stehenden Menschen eingeklemmt wurden. Die Hände wurden gefesselt und mit Stricken zu dem beschriebenen Holzpflock gezogen. Strafen für kleine Diebstähle, Ungehorsam, Brandstiftung wurden am Pranger verbüßt. Die jeweils zu Bestrafenden wurden entkleidet und dann, um es wörtlich wiederzugeben, mit Ruten oder Riemen gestrichen. Das Prangerstehen erfolgte von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, also vorwiegend des Nachts, weil dann die meisten Jugendlichen schliefen. Das Riemen- oder Rutenstreichen wurde im allgemeinen alle 2 Stunden bis zum Sonnenaufgang wiederholt. An dem großen Geschrei der am Pranger stehenden Person war sehr wohl zu hören, daß die Sache einen nicht gerade angenehmen Beigeschmack hatte.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die der deutschen Bevölkerung fast unerwartet in den Schoß fiel, hatte im Anfang eine ganz katastrophale Auswirkung. Zum Teil wurde jegliche Arbeit eingestellt, die vorhandenen alkoholischen Getränke wurden restlos vertrunken, eine Menge Vieh geschlachtet und verzehrt. Im Herbst kam die Saat nur teilweise in die Erde, so daß in den nächsten Jahren die Lebensmittel knapp wurden. An allen diesen Tatsachen ist zu ersehen, daß allzuviel Freiheit von den meisten Menschen nicht gut vertragen wird. Der damalige Herrscher Europas, Napoleon, zog eine ganze Menge jüngerer Leute zum Heeresdienst ein. In den Dörfern wurden Bürgermeister eingesetzt, deren Vollmachten außerordentlich groß waren. Einbruchdiebstahl wurde mit dem Tode bestraft und andere Vergehen, die die öffentliche Ordnung gefährdeten, mit schweren körperlichen Züchtigungen. Auf diese Art wurde dann wieder ein einigermaßen erträglicher Zustand geschaffen. Vorher zogen Scharen von etwa 100 Mann raubend und plündernd durch die Lande. Es ist vorgekommen, daß sie nachts auch über die Mauern in die Städte eindrangen. Meist waren es Söldner oder Landsknechte, die nirgends ihrem Beruf entsprechend Stellung finden konnten, entlaufene Leibeigene oder aus Städten ausgewiesene Personen. Wenn sie bei ihrem schandhaften Tun erwischt wurden, schrieb man ihr Todesurteil. Sie wurden am Galgen aufgehängt oder vom Scharfrichter enthauptet. Daraus ist zu ersehen, daß die Städte gut daran taten, sich mit einer Befestigungsanlage zu versehen und nachts ihre Tore zu schließen. Waren konnte man nur unter dem Schutz erheblich Bewaffneter verschicken. Der Ausdruck „Raubritter“ ist nicht in jedem Falle mit Recht anzuwenden. Die Gutsherren nahmen gewöhnlich von den durchziehenden Kaufleuten mit ihren Warenzügen eine kleine Steuer. Das Bestreben der Kaufleute ging natürlich dahin, diese Steuer nicht zu bezahlen, woraus dann sehr leicht Streitigkeiten entstehen konnten. Stellungslose Söldner und Landsknechte hingegen gingen nur auf Raub aus.
Zu den bisher beschriebenen Verhältnissen der Leibeigenschaft sei noch gesagt, daß der alte, arbeitsunfähige Bauer sich auf sein Altenteil zurückzog und von dem jeweils eingesetzten Erben – ob es nun ein Sohn oder ein Fremder war – bis an sein Lebensende mit Kleidung und Nahrung versehen werden mußte. Dasselbe Vorrecht hatten auch alle diese Personen, die durch einen Unfall oder Kriegseinwirkung arbeitsunfähig waren. Das beweist, daß während der Existenz der Leibeigenschaft niemand zu verhungern brauchte.
Ein Beispiel, wie sich mündliche Überlieferung von Begebenheiten, die innerhalb eines Volkes stattfanden, erhalten haben, ist der Text eines preußischen Marschliedes, das um 1900 noch von der preußischen Garde gesungen wurde.
Ein Edelmann liebte seine holde Maid
bis an den hellen Morgen.
Und als der helle Tag anbrach,
da fing sie an zu weinen.
Weine nicht, nicht weinen, mein liebes Kind,
Deine Liebe will ich bezahlen,
ich geb Dir meinen Reitersknecht,
dazu noch 1000 Taler.
Den Reitersknecht, den will ich nicht,
ich will den Herren selber.
Den Herren selber kriegst Du nicht,
geh heim zu Deiner Mutter.
Ach Tochter, liebes Töchterlein,
was ist mit Dir geschehen,
Dir wird ja vorn das Kleid zu kurz
und hinten immer länger.
Ach Mutter, liebes Mütterlein,
ich muß es Dir ja sagen,
ich hab bei einem Graf gedient
und auf der Burg geschlafen.
Der Text dieses Liedes zeigt nahezu mit großer Deutlichkeit eine damalige Begebenheit auf. War das Einverständnis mit diesem Marschlied nun so eine Art Galgenhumor, oder war es Neid auf die jeweils bessere Stellung der Väter, Groß- und Urgroßväter? Bei einigen Regimentern war das vorstehende Lied verboten, während andere Grafen, Freiherren und Barone feste mitsangen.
Nach Aufhebung der Leibeigenschaft entwickelt sich eine außerordentlich umfangreiche Bürokratie. Der Freiherr von Stein schreibt darüber:
Cappenberg, 24. Aug. 1821-
Wir werden von besoldeten Buchgelehrten, interessenlosen, ohne Eigentum seienden Buralisten regiert. Das geht, solange es geht. Besoldet, also Streben nach Erhalten der besoldeten Buchgelehrten, als Leben in der Buchstabenwelt und nicht in der wirklichen. Interessenlos, denn sie stehen mit keiner der den Staat gründenden Bürgerklassen in Verbindung. Sie sind eine Kaste für sich, die Schreiberkaste. Eigentumslos, also alle Bewegungen des Eigentums treffen sie nicht. Es regnet oder scheint die Sonne, die Abgaben steigen oder fallen, man zerstöre alte hergebrachte Rechte oder lasse sie bestehen. Man (terrorisiere) theorisiere alle Bauern zu Tagelöhnern, man substituiere an die Stelle der Hörigkeit an die Gutsherren, die Hörigkeit an die Juden und an die Bucherer. Alles das kümmert sie nicht. Sie erheben ihr Gehalt aus der Staatskasse und schreiben, schreiben, schreiben im Stillen hinter wohlverschlossenen Bürotüren. Unbekannt, unbemerkt, unberühmt und ziehen ihre Kinder wieder zu gleich brauchbaren Schreibmaschinen heran.
Eine Maschinerie (die militärische) sah ich fallen 1806, den 14. Okt., vielleicht wird auch die Schreibmaschinerie ihren 14. Okt. haben.
Vorstehendes ist entnommen einem Brief von dem Freiherrn von Stein an den Freiherrn von Gagern. Schon 1807 hatte von Stein an Hardenberg geschrieben:
Ich glaube, daß es wichtig ist, die Fesseln zu brechen, wodurch die Bürokratie den Aufschwung der menschlichen Fähigkeiten hindert. Man muß diesen Geist der Habsucht zerstören, diese Ähnlichkeit an den Mechanismus, welchem diese Regierungsform unterworfen ist. Die Nation muß daran gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus diesem Zustand der Kindheit herauszutreten, worin eine immer unruhige, immer dienstfertige Regierung die Menschen halten möchte.
Diese Worte des Freiherrn von Stein hören sich an, als wenn sie von gestern wären, dabei sind sie am 14. Okt. 1807 geschrieben. Als Napoleon in der Schlacht von Waterloo vollständig geschlagen war und von den Engländern auf die Insel Helena verbannt wurde, war wieder Friede in Europa. Der preußische König, die Fürsten, Freiherren und Gutsherren wollten nunmehr die Leibeigenschaft wieder einführen, die von Napoleon 1806 aufgehoben worden war. Diesem Bestreben widersetzte sich der Freiherr von Stein. Er fiel dadurch in Ungnade und wurde ohne Pension aus dem deutschen Staatsdienst entlassen. Die großen Unruhen, die damals überall ausbrachen (Vorboten der Revolution von 1848), veranlaßten die Regierung aber, diesen Freiherrn von Stein doch wieder in ihre Dienste zu nehmen. Es ist ziemlich sicher anzunehmen, daß ohne die weitgehende Erkenntnis des Freiherrn von Stein die Leibeigenschaft wieder eingeführt worden wäre.
Es hat damals schon viele Leute gegeben, die mit den gegebenen Verhältnissen nicht einverstanden waren. Nachstehendes hat ja mit der Geschichte von Meiningsen eigentlich wenig zu tun, aber es zeigt, wie man. damals dachte. Der Dichter des Deutschlandliedes, Hoffmann von Fallersleben, schrieb am 31. 5. 1839 nachstehendes Gedicht an Jakob Grimm:
Von allen Wünschen auf der Welt
mir einer mehr anjetzt gefällt,
nur „Knüppel aus dem Sack“!
Und gäbe Gott mir Wunsches Macht,
ich dächte nur bei Tag und Nacht
nur „Knüppel aus dem Sack“.
Dann braucht ich weder Gut noch Gold,
ich machte mir die Welt schon hold
mit „Knüppel aus dem Sack“.
Ich schaffte Freiheit, Recht und Ruh
und fröhliches Leben noch dazu
beim „Knüppel aus dem Sack“.
Und wollt ich selbst recht lustig sein,
so ließ ich tanzen Groß und Klein
beim „Knüppel aus dem Sack“.
Oh, Märchen, würdest du doch wahr,
nur einen einz'gen Tag im Jahr,
oh „Knüppel aus dem Sack“!
Ich gäbe drum, ich weiß nicht was,
und schlüge drein ohn' Unterlaß,
frisch „Knüppel aus dem Sack“,
aufs Lumpenpack,
aufs Hundepack!
► Meiningsen bei Soest, Inhaltsübersicht.